Also, selbst wenn jemand vom Dokumentarfilm spricht, spricht er von Inszenierung (Profilmisches + Kadrierung + Montage). Aber Sie werden mir trotzdem nicht weiß machen wollen, dass man im Dokumentarfilm den gefilmten realen Personen vorschreiben kann, was sie zu tun und zu sagen haben, und dass man ihnen wie Schauspielern Anweisungen gibt!

Um versuchsweise die Abstufungen des Dokumentarischen hin zum Fiktionalen, die im Laufe der vier vorangegangenen Fragestellungen behandelten Herangehensweisen genauer zu fokussieren, untersuchen wir ein Schulbeispiel. Die Analyse wird die drei stufenförmig verschachtelten Ebenen des filmischen Dispositivs unterscheiden: die Vorgaben für die Dreharbeiten, die Art und Weise wie gedreht wird und die vorausgesetzte Bereitschaft des Zuschauers, dem Gezeigten zu glauben.

Gegenstand des Experiments: Den Laden und die Arbeit eines Photographen im Viertel um die Ecke filmen.

Stufe Null: Ich filme den Laden und das Schaufenster, vielleicht warte ich, dass einer eintritt, dass Passanten verweilen und die ausgestellten Photos kommentieren (Kann mein Mikro ihre Worte unbemerkt aufnehmen?); ich beobachte und filme den Photographen, wie er aus der Tür heraustritt oder den Rollladen hochzieht.

Hier gibt es keine Eingriffe in das ‹Profilmische›, alles ist versteckt gefilmt, zumindest ohne Zustimmung, unbemerkt von den Protagonisten (Passanten und Photograph), die Mise-en-scène beschränkt sich auf die Kadrierungen und auf die Montage, mit Atmo-Ton. In den Augen mancher sollte sich der Dokumentarfilm daran halten, keinen Einfluss auf das Gefilmte zu nehmen. (Das ist z.B. der Ansatz von Vertov in Der Mann mit der Kamera (1929) oder jener, den Jean Vigo einforderte, der aber dennoch – in À propos de Nice (1929) – surrealistischen Trickaufnahmen nicht entsagt hat, die den Bourgeois karikieren).

Wenn man auch tatsächlich sagen kann, dass hier nichts für die Kamera gespielt wird und dass strictu senso nichts in Szene gesetzt wird, so muss man doch zwei Einschränkungen machen: 1. Die Art zu filmen und zu montieren wird dennoch auf die Bedeutung dessen Einfluss nehmen, was man zeigt. 2. Der Gegenstand findet sich allein auf seine unmittelbarsten äußeren Erscheinungen eingeschränkt – ohne Möglichkeit, darüber mehr zu erfahren.

Der Zuschauer hat den Eindruck, alles sei unvorbereitet, spontan, ‹wahrhaftig›. Er kann auch voyeuristischen Kitzel spüren – angesichts von Bildern, die nicht nur im Vorbeigehen gemacht, sondern auch ‹geklaut› sind.

Stufe Eins: Ich bitte Passanten, hineinzugehen oder das Schaufenster zu betrachten, den Photographen, in der Tür zu erscheinen ...

Ich nehme minimal auf das Profilmische Einfluss, um die Szene zu beleben; ich führe eher eine Situation herbei, als dass ich auf sie warten würde. Hier setzt die Mise-en-scéne, selbst wenn sie in etwa das arrangiert, was sich gewöhnlich abspielt, in Bezug auf die Handlung ein – zusätzlich zur Kadrage und zur Montage. (Man ahnt, dass Stück für Stück dieses ‹Minimum› der Mise-en-scène immer weitere Ausmaße annehmen kann ... bis zur völligen Inszenierung der Szene und damit bis zur Fiktion!).

Der Zuschauer hat denselben Eindruck wie bei Stufe Null; ich kann – abgesehen von offensichtlicher Stümperei – nicht wirklich das bisschen Nachhilfe hinsichtlich der kleinen Eingriffe in die gefilmte Situation / erkennen.

Stufe Zwei: Ich bewege mich unmittelbar hinter jemandem (Person, Komparse, Schauspieler?), der sich gerade photographieren lässt, ich filme seine Photosession – augenscheinlich mit seiner und des Photographen ausdrücklicher Zustimmung.

Die Mise-en-scène ist hier um das Element des Protagonisten erweitert , der zunehmend weniger eine Person ist und immer mehr zur Figur wird – je nachdem, ob es ein wirklicher Kunde, ein Komparse oder ein Schauspieler ist.

Der Zuschauer ist im Bilde, dass es sich nicht um eine unmittelbar lebenswirkliche Aufnahme handeln kann, sondern dass er es mit einem gestellten Dokumentarfilm zu tun hat – mit der impliziten Zustimmung der Protagonisten, von denen er a priori glaubt, sie seien ‹authentische Personen›.

Stufe Drei: Ich richte mich im Geschäft des Photographen ein (offenkundig mit seiner Zustimmung) und filme seine Arbeit: Photo-Sessions (mit der unvermeidlichen Zustimmung der Posierenden), Dunkelkammer, Verkauf ...

Die Mise-en-scène konzentriert sich auf die Gestik des Photographen, der zugleich zu einer Rolle(nfigur) wie zu einem Beruf(svertreter) wird. Oder der Photograph kann der Vermittler des Filmenden werden, dann wird er selber ein bisschen Regisseur und photographischer Enthüller/Entwickler seiner Modelle. (Gerade auf dieses doppelte Arrangement bezieht sich Johan van der Keuken in seinem Kurzfilm To Sang Fotostudio [1997], der verschiedene Immigranten auf der Straße dazu bringt, beim chinesischen Photographen des Viertels von sich Porträtaufnahmen machen zu lassen).

Der Zuschauer begreift, dass es sich um einen gestellten Dokumentarfilm über die Aktivitäten eines Photographen und seine Kunden handelt, die damit einverstanden sind, gefilmt zu werden.

Stufe Vier: Ich bitte Komparsen (Darsteller) hinzu, um sich photographieren zu lassen und einige Situationen (improvisiert oder vorbereitet) herbeizuführen.

Die Mise-en-scène beinhaltet nun das Element der Intrige. Sie ist zur Hälfte Fiktion, was die Modelle betrifft, zur Hälfte dokumentarisch mit Blick auf den Photographen, der nicht auf dem Laufenden ist. Wenn jetzt noch der Photograph eingeweiht und bereit ist, das Spiel mitzumachen, wird die Situation zu einer szenisch gespielten Fiktion, die einem Dokumentarfilm ähnelt.

Kann der Zuschauer den Trompe-l'œil'-Mechanismus einer solchen Inszenierung durchschauen? Je nach der Leistung der Protagonisten und je nach dem, was der Zuschauer daraus ableitet, wird er mehr oder weniger den Eindruck gewinnen, einen Dokumentarfilm, einen schlechten Spielfilm oder eine gute Farce oder eine Täuschung zu sehen. Die Mise-en-scène kann auf Täuschung (gefälschter Dokumentarfilm) abzielen oder darauf, den Zuschauer auf Kosten des düpierten Photographen zum Komplizen zu machen oder ihn zu amüsieren, indem man ihn schrittweise verstehen lässt, dass alles gespielt ist. Man sieht, dass das Urteil (Dokumentarfilm oder Spielfilm, ernsthafte oder fingierte Enunziation) abhängig ist von dem Verhältnis zwischen dem, was die Kunden des Photographen einerseits von der Spielregel wissen, und dem Photograph andererseits sowie dem, was der Zuschauer in dieser Hinsicht voraussetzen kann

Stufe fünf: Indem ich insgesamt die Anordnung der Dreharbeiten vor Ort beibehalte, vertraue ich die Rollen des Photographen und die seiner Kunden Schauspielern an.

Hier kommt zur Mise-en-scène der Begriff der Rollen-Interpretation hinzu.

Der Zuschauer sieht entweder einen mehr oder weniger gut interpretierten Spielfilm, oder er glaubt, einen Dokumentarfilm zu sehen, dermaßen gut ist die Interpretation. Die Fiktion würde also implizieren, dass man an sie ausreichend glaubt, um als gelungen zu gelten, aber nicht zu sehr, damit sie nicht für die Realität gehalten wird. Das ‹ästh-ethische› Urteil verlangt hier eine Kontextualisierung, die die Absichten der Mise-en-scène erhellt: Kunst oder Fälschung, Kunst der Fälschung? (Man kann nur auf den wunderbar durchtriebenen Film F for Fake [F wie Fälschung, 1975] von Orson Welles verweisen).

Stufe Sechs: Ich baue den Photoladen im Studio nach. Ich lasse den echten Photographen kommen und bitte ihn, ‹so wie immer zu agieren› (was in einer Kulisse, selbst wenn sie wirklichkeitsgetreu gestaltet ist, nicht so einfach ist). Die ‹Passanten› zu filmen, ist offensichtlich nicht mehr möglich! Aber ich lasse echte Kunden kommen und bitte sie, Situationen zu ‹spielen›, die ich auf der Basis der Beobachtung des ‹wahren Lebens› szenisch entworfen habe.

Die Mise-en-scène beruht hier auf einer mehr oder weniger gewollten Differenz zwischen Natürlichem und Künstlichem – mit Inversionseffekten: künstliches, weil unbeholfenes Spiel der realen Menschen; sorgfältig hergestellte Kulissen, die natürlich wirken ...

Der Zuschauer stellt sich nun gerade die Frage über den natürlichen Schein, das gute oder schlechte Spiel, über die Interferenz zwischen Person und Figur, lebensweltliche Rolle und Rolle auf der Leinwand. Ist dies Kunst oder Krempel? Wenn der Film unvermittelt verstanden glaubwürdig ist, ist er es als Dokumentar- oder Spielfilm? Als vermittelt verstanden kann er lachhaft oder irritierend erscheinen. Nach Maßgabe eben dieser Differenz wird der Zuschauer das Unternehmen als gelungen oder missraten, naiv oder sinnlos, kreativ oder prätentiös beurteilen.

Stufe Sieben: Kulissen im Studio, Schauspieler, die nach einem verfassten Drehbuch agieren.

Die Mise-en-scène beruht hier auf den Vorgaben für die Kulissen und Kostüme, die Dialoge, die Anweisungen und das Spiel der Darsteller, den vorgesehenen Schnitt, die Kamerabewegungen ...

Der Zuschauer sieht ganz einfach ‹einen Film›, einen Spielfilm. Von diesem verlangt er gerade in Anbetracht der Freiheiten, die die Fiktion sich mit Situationen und Figuren nehmen kann, ein Mehr an Emotionen und Sinnstiftung – und zwar über eine stilisierte, verdichtete und aufschlussreiche Dramaturgie.

Unter keinen Umständen – weder vom Dokumentarfilm noch vom Spielfilm (entsprechend selbstverständlich unterschiedlichen Modalitäten) – erwartet der Zuschauer ein Double, das die ‹Realität› zum Verwechseln ähnlich kopiert; er erhofft, wie von jedem geistig schöpferischen Werk, ein Mehr an Sinn und sensiblem Verständnis der Welt.