Zu behaupten, dass Éric Rohmer einer der ganz großen Regisseure des europäischen Kinos gewesen ist, läuft auf einen Gemeinplatz hinaus. Doch geht mit dem Renommee oftmals auch eine Gleichgültigkeit einher: Wenn ein Autor und sein Werk einmal anerkannt und geradezu klassisch geworden sind, kann es leicht sein, dass die Zuschauer wenig Grund sehen, sich noch mit ihm zu beschäftigen. Viele Klassiker (auch die der Moderne) teilen das Schicksal, auf den Bücherregalen oder in den Archiven zu verstauben – mit der Zeit kennt man sie immer schlechter, weil man glaubt, sie zu gut zu kennen.

Wenn die  Retrospektive der Viennale sich Éric Rohmer widmet, bietet sie die Gelegenheit, eines der schönsten und beglückendsten filmischen Gesamtwerke neu zu entdecken. Und das ist bei Rohmer das Entscheidende: seine Filme möchten vor Ort, das heißt im Kino, erlebt werden; der Kontakt zu ihnen kommt zustande, indem man sie sieht, nicht indem man kluge Aufsätze über sie liest. „Eine rote Erdbeere kannst du von einer grünen erst dann unterscheiden, wenn du sie schmeckst", heißt es in dem Episodenfilm 4 Aventures de Reinette et Mirabelle, was einer Banalität gleichkommen mag, aber eben auch wahr ist.

Von der berühmten Fünferbande der französischen Nouvelle Vague – Truffaut, Godard, Rivette, Rohmer, Chabrol – war Maurice Schérer (Rohmers wirklicher Name) der älteste und der einzige mit einer akademischen Laufbahn. Er hat als Lehrer gearbeitet, Filme für das französische Schulfernsehen gedreht und Filmgeschichte an der Universität unterrichtet. Auch unterscheidet ihn von den vier Weggefährten, dass es bei ihm die größte Fortentwicklung von seinen früheren filmkritischen Texten zu seinen Filmen gibt. Jemand der Rohmer nicht kennt, würde kaum darauf kommen, dass ein so hochgradig intellektualisierter Essay wie „Le celluloid et le marbre" von dem gleichen Menschen stammt, der La femme de l'aviateur gemacht hat. Und dennoch ist das, was Rohmer als Theoretiker formuliert hat, am Untergrund seiner Filme immer vorhanden – allerdings nicht ausdrücklich, ohne erhobenen Zeigefinger. Es ist eine der großen Eigenheiten seines Kinos, dass sich Reflexivität und Leichtigkeit keineswegs ausschließen, sondern ein persönliches Ganzes sind.

Er hat gesagt: „Ich unterscheide zwei Arten von Kino: das Kino, das sich selbst zum Objekt, zum Ziel nimmt, und jenes, das die Welt zum Gegenstand hat, und das nur ein Mittel ist". Und darum geht es, egal, ob seine Filme in der Gegenwart spielen (die Zyklen „Moralischen Erzählungen", „Komödien und Sprichwörter", „Erzählungen der vier Jahreszeiten") oder zur Zeit der Französischen Revolution (L'Anglaise et le Duc) oder im Mittelalter (Perceval le Gallois) – Rohmer lässt alles Akademische hinter sich und blickt mit größter Unvoreingenommenheit auf die Welt, in der seine Figuren leben. Durch diesen Blick vermag er es, auch unseren Blick auf die Welt zu sensibilisieren. Wir treten, wenn wir einen seiner Filme gesehen haben, mit offeneren Augen aus dem Kino heraus. In einer Zeit, in der uns die Medien immer weiter von der Welt, in der wir leben, entfremden, kann man sich keine schönere, bereicherndere „Lektion" vorstellen.

Neben den Spielfilmen von Éric Rohmer wird die Retrospektive auch viele seiner Kurzfilme und Arbeiten für das französische Schulfernsehen zeigen. Außerdem wird ein Buch über ihn und sein Werk erscheinen.

(Stefan Flach)