Editorial

Viel Wirbel und Aufregung, obwohl Kevin Kühnert in der ZEIT am 2. Mai 2019 im Prinzip nur formulierte, was seit 50 (!) Jahren Beschlusslage der Jungsozialisten ist – und er zudem ein „in der Geschichte der Äußerungen von Juso-Vorsitzenden durchaus moderates Interview“ (Nils Minkmar) gab. Viel häufiger müsste über Struktur- und Systemfragen wie über gesellschaftspolitische Alternativen diskutiert werden, in dieser „Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik“ bemühen wir uns darum seit Jahrzehnten.

Natürlich muss, wie immer in den perspektivends, alles auf den Prüfstand: Wieweit trifft Kevin Kühnert mit dem, was er an Positionen markiert, eigentlich den erreichten Debattenstand um den Demokratischen Sozialismus, wo bleibt er unscharf und missverständlich? Unser Sozialismus heißt ja nicht Verstaatlichung, aber so eindeutig hat er das auch nicht gesagt. Wie stellt sich das Verhältnis von Demokratischem Sozialismus und Sozialer Demokratie dar (erläuterungsbedürftig sind wohl beide Begriffe)? Wieweit sind Instrumentenfragen nach dem Eigentum an Produktionsmitteln marxistisches Relikt oder angesichts neuer grenzenloser Vermögenskonzentration gar von aktueller Relevanz?

Das Godesberger Programm (1959) taugt jedenfalls kaum als Kronzeuge gegen den Juso-Vorsitzenden, ganz im Gegenteil steht dort: „Das zentrale Problem heißt heute: Wirtschaftliche Macht. Wo mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht gewährleistet werden kann, ist Gemeineigentum zweckmäßig und notwendig.“

Oder sind wir bereits soweit, dass nur noch der Begriff Soziale Marktwirtschaft, einst die christlich-konservative Alternative zum Demokratischen Sozialismus der SPD, möglich ist als Korrektiv zur neoliberalen Marktradikalität? Jedenfalls auf Bildzeitungsniveau zu fordern, den Sozialismus endlich aus dem Programm zu streichen mit dem Argument „der Sozialismus ist gescheitert. Seit Jahrzehnten steht die SPD für eine soziale Marktwirtschaft“ (Bild, 17. 5. 2019, S. 2) zeugt nur von der völligen Unkenntnis der Ideengeschichte der einst unversöhnlich gespaltenen Arbeiterbewegung. Hoffen wir, dass der so dem politischen Gegner Argumente liefernde Vize-Präsident des SPD-Wirtschaftsforums (ein Verein, der nicht Teil der innerparteilichen Demokratie ist!) eine Einzelstimme bleibt.

 Auch ob der Zeitpunkt für eine solches Erinnern an sozialistische Grundsätze der richtige war, mag umstritten sein. Sicherlich war mehr als befremdlich, wie sich die Debatte entwickelte: einerseits ein naiv-geschichtsloser medialer Streit, der völlig aus dem Ruder lief und offenbar nicht einmal mehr eine Ahnung vom prinzipiellen Unterschied zwischen Demokratischem Sozialismus und Marxismus-Leninismus hatte. Andererseits fand die Provokation in den Reaktionen manch anderer SPD-Politiker wenig souveräne programmatische Antworten. Es wurde eben nicht - außer von Wolfgang Thierse - das geltende Hamburger Grundsatzprogramm (2007) zitiert, es wurde nicht genauer darauf hingewiesen, wie weit der Begriff Kollektivierung kontaminiert ist, ob nicht besser von „öffentlichen Gütern“ und Konzepten der Wirtschaftsdemokratie gesprochen werden sollte, oder ob die bevorstehenden ökologischen Katastrophen, zu denen Kevin Kühnert in diesem Interview nichts sagte, vielleicht das entscheidendste Argument für die Erneuerung von Kapitalismuskritik sind.

Zwei zentrale Punkte sollten unseres Erachtens allerdings unstrittig sein:

Niemand sollte sich als Stichwortgeber für die unsachliche Diffamierung der Rechten, die die SPD zerstören wollen, hergeben: also die Thesen als mediales Spektakel diffamieren („Methode Donald Trump“), ihn persönlich angreifen („abgebrochenes Studium“), ihm etwas völlig Falsches unterstellen („Staatseigentum a la DDR“), ihn lächerlich machen („was hat der bloß geraucht?“), ihn ausgrenzen („Parteiausschluss“).

Prinzipiell braucht eine SPD, die keine andere, beliebige, bloß sozialliberale Partei sein will, immer beides: den täglichen Pragmatismus der kleinen Schritte, aber auch die Erzählung von einer besseren, weniger kapitalistisch dominierten Zukunft, die nicht alles der Profimaximierung unterordnet. Die SPD macht eben beides aus: Soziale Demokratie und Demokratischer Sozialismus! Ohne historisch verwurzelten, durch wissenschaftliche Gesellschaftsanalyse fundierten, utopischen Überschuss fehlt schnell die Orientierung in der Praxis des Alltags, wir kennen die Folgen: keine glaubhafte Verkörperung von Werten, Opportunismus, Karrierismus, Berater und Umfragen haben das Sagen, Ausrichtung am Ich statt am solidarischen Wir.

Natürlich hat Klaus Staeck Recht mit seinem Markenzeichen „Nichts ist erledigt“, was die großen Herausforderungen wie Demokratiegefährdung, Ungleichheit, Ausbeutung, Kapital- und Reichtumskonzentration, Artensterben, Klimakatastrophe usw. angeht. Manche Fragen des nationalen Industriekapitalismus kehren im digitalen und Finanz-Kapitalismus im globalen Maßstab zurück. Fragen der ökologischen Grenzen der Welt, wie sie Ende der 1970er Jahre gestellt werden, rücken - nicht zuletzt durch die Schülerbewegung zur Rettung des Weltklimas - wieder ins Zentrum der Agenda.

Doch manchmal erledigen sich auch - zugegebenermaßen: geringere - Probleme überraschend schnell. So zwei Punkte, die vor einem halben Jahr in den perspektivends 2/18 kritisiert wurden:

Die Parteiführung der SPD hatte wohl doch nur – allerdings nicht sehr glücklich agierend – verkrustete Strukturen aufbrechen und nicht die historische Arbeit an sich beenden wollen. Aus der Historischen Kommission wurde jetzt das Geschichtsforum - und zudem entstand aus dem Protest heraus eine unabhängige Vernetzung vieler Historikerinnen und Historiker, die sich mit der Geschichte von Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie beschäftigen.

Die Sammlungsbewegung #aufstehen, deren Spaltungspotential links der Mitte und deren Flirt mit nationalistischen und sog. „kommunitaristischen“ Positionen kritisiert wurden, kam nie richtig in Gang und hat jetzt ihr bundespolitisches Scheitern zugegeben. Statt einer sich „von unten frei entfaltenden parteiunabhängigen Bewegung mit offener strategischer Zielsetzung“ sei aus #aufstehen faktisch eine „politische Vorfeldorganisation einer bestimmten Strömung der Partei die LINKE geworden“, so das vernichtende Resümee von Ludger Volmer, der GRÜNE Expolitiker hatte sich anfangs für #aufstehen stark gemacht.

Diese Ausgabe enthält im Schwerpunkt Schöne neue digitale Welt Beiträge aus der HDS-Tagung in Birkenwerder vom Februar 2019. Durch die beschleunigte technologische Revolution muss die Aufgabe, aus technischem Fortschritt sozialen Fortschritt zu machen, neu durchbuchstabiert werden. Im Digitalen Kapitalismus ist eben nichts erledigt. Die Faszination ungeahnter neuer technischer Möglichkeiten mischt sich mit dringendem Handlungsbedarf, damit Freiheit, Kritik, Wahrheit, humane Arbeitswelten, soziale Errungenschaften, intakte Umwelt usw. erhalten bleiben. Damit keine Schöne neue Welt entsteht, wie der 1932 erschienene dystopische Roman von Aldous Huxley „Brave New World“ auf Deutsch hieß. Dieser beschreibt eine Gesellschaft in der Zukunft, im Jahre 2540 n. Chr., in der „Stabilität, Frieden und Freiheit“ gewährleistet scheinen, in Wirklichkeit aber eine totalitäre Diktatur herrscht, die u.a. die Mitglieder dieser Gesellschaft so konditioniert, dass ihnen das Bedürfnis zum kritischen Denken und Hinterfragen ihrer Weltordnung abhandenkommt.

Darüber hinaus greifen wir die Debatte über Rosa Luxemburg und die Revolutionsereignisse aus dem Winter 2018/19 anlässlich des 100. Jahrestags auf. Schon eigenartig, wie links von der SPD der kommunistische Gründungsmythos wiederaufflammte und ein pauschales Schuldeingeständnis der SPD, immerhin 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges, eingefordert wurde. Dabei bleibt Rosa L., ohne Frage eine linke Popikone, eine umstrittene Figur: Forderungen, sie von Seiten der Sozialdemokratie endlich mehr als bisher anzuerkennen, stehen äußerst kritische Urteile gegenüber. Die Debatten werden weitergehen.

Zudem ist weniger die mythische, vom intellektuellen SDS angeleitete Studentenbewegung von „68“, sondern 1969 mit der sozialliberalen Reformmehrheit von Willy Brandt das eigentliche Datum des politischen Aufbruchs in der Bundesrepublik, an das wir nach 50 Jahren erinnern: zu dieser – natürlich nicht unumstrittenen - These drei substanzielle und erfahrungsgesättigte Beiträge.

Zuletzt eine Bemerkung in eigener Sache: Die perspektivends werden mehr als früher beachtet, so waren wir am Stand des Marburger Schüren Verlages auf der Leipziger Buchmesse präsent und regelmäßig erreicht uns Dank („bewundernswerte Arbeit an den dicken Brettern in der langen Ebene“) und Kritik („Sammelsurium im Spektrum von Zwischenrufen bis zur Fachzeitschrift“). Deshalb seien einmal mehr vier Charakteristika unserer Zeitschrift in Erinnerung gerufen:

Die perspektivends spiegeln vor allem das wider, was im Rahmen des Vereins der Hochschulinitiative demokratischer Sozialismus e.V. im jeweils letzten halben Jahr diskutiert und geschrieben wurde.

Die perspektivends sind unabhängig, durch Mitgliederbeiträge des Vereins ermöglicht. Sie folgen keiner vordergründig machtpolitischen Linie, daher sind auch vergleichsweise zugespitzt-kritische, besonders kontroverse und innovative Beiträge möglich. Diese grundsätzliche Offenheit als Querdenkerin und Vordenkerin unterscheidet uns von anderen Publikationen, die stärker in politische Verantwortung eingebunden sind.

Es geht den perspektivends darum, Brücken zu bauen zwischen wissenschaftlichen Diskursen und intellektueller Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse und des politischen Handelns. Von daher changieren viele Beiträge zwischen Wissenschaft, publizistischem Essay und politischer Intervention. Daneben enthält jedes Heft mit den jungen perspektiven einen redaktionell eigenständigen Teil (diesmal wieder von Hendrik Küpper betreut).

Nicht zuletzt bewegen sich die perspektivends im Wertekontext des Demokratischen Sozialismus, der historische Begriff entstammt vor allem dem reformsozialistischen Godesberger Programm der SPD (1959). Wir verstehen ihn in seiner praktischen Ausprägung als ein Konzept sozialer Demokratie, das die Demokratisierung aller Lebensbereiche einschließt und damit eigentlich radikaler ist, als es der marxistisch inspirierte Sozialismus-Begrif vermuten lässt. 

Eine traurige Nachricht ist der Tod unseres Freundes und aktiven Vorstands- und Redaktionsmitglieds Klaus Faber (1940-2019), der im April in Potsdam überraschend verstarb.

Kira Ludwig/Klaus-Jürgen Scherer