Die Geschichte der Erasmusstiftung war bisher unbekannt. Warum soll sie rekonstruiert werden? Die Gründe dafür sind historisch und ideell. Im Europa des 16. Jahrhunderts, das zunehmend durch religiöse und staatliche Schranken gespalten war, stellte die Erasmusstiftung einen Höhepunkt des Kosmopolitismus, der Kultur und der Freiheit im Hinblick auf die Schaffung eines gemeinsamen und friedlichen europäischen Raums dar. Die Stiftung wurde mit dem umfangreichen testamentarischen Vermächtnis des Erasmus von Rotterdam (1469-1536) von Bonifacius Amerbach gegründet, einem bekannten Juristen und Erben des niederländischen Humanisten. Allein im 16. Jahrhundert unterstützte die Institution mit Stipendien und Zuschüssen Tausende von Exilanten, Gelehrten, Studenten, Armen, Frauen und Lehrlingen aller Religionen und Länder, die durch Europa zogen, um Verfolgung und Armut zu entkommen und ihre berufliche, kulturelle oder familiäre Situation zu verbessern.
Sitz der Stiftung war Basel, eine von Erasmus bevorzugte Stadt, die damals für ihre Liberalität und kulturelle Lebendigkeit berühmt war, die durch ein florierendes Druckgewerbe, eine angesehene Universität und aufgeklärte städtische und kirchliche Behörden gefördert wurde. Hier setzte es seine Tätigkeit bis 1869 unter der Aufsicht der Universität der Stadt fort (und unterstand bis 1586 dem Almosenamt für die Armenfürsorge). Aufgrund ihrer geografischen und religiösen Offenheit war die Erasmusstiftung einzigartig in der kaiserlichen Philanthropielandschaft. Sie stand im Gegensatz zu den zahlreichen Stiftungen zur Unterstützung von Studenten und Armen, die damals florierten und zur fortschreitenden Territorialisierung, sozialen Disziplinierung und Konfessionalisierung des Germanischen Reiches durch die im Zeitalter der Reformation entstandenen Staaten und Kirchen beitrugen.
Durch die Stiftung wurde das von Erasmus zeitlebens verfolgte und von Amerbach geteilte Projekt verwirklicht: Männer und Frauen auszubilden, die eine von den Werten der Frömmigkeit, der Menschlichkeit, der Gleichheit, der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens vollständig erneuerte Gesellschaft mit einer transnationalen und multireligiösen Perspektive gestalten. Die intellektuelle und moralische Erziehung war die Grundlage dieses Entwicklungsprojekts. Erasmus selbst brachte es auf den Punkt: „Menschen werden nicht geboren, sie werden“. In seiner Vision konnten daher alle Menschen, unabhängig von ihren sozialen Verhältnissen, zu diesem bewundernswerten Entwurf beitragen, und zwar kraft der Würde und der Vernunft, die dem Menschengeschlecht eigen sind, nach einer Erziehung, die auf der klassischen und biblischen Kultur und der Erasmischen evangelischen Religion beruht.
Erasmus, der arme uneheliche Sohn eines Priesters, war das lebende, leuchtende Beispiel für die Möglichkeiten des Wandels, die durch Kultur und Philanthropie eröffnet wurden. Wenn wir heute dem Europa ohne Grenzen von Erasmus ein Buch widmen, so bedeutet dies, dass wir die Vision einer für den Dialog, den Austausch und die Integration offenen Gesellschaft mit fruchtbaren zukünftigen Entwicklungen fördern wollen. Es geht darum, der Erasmischen Utopie vom Aufkommen einer authentischen Menschheit neue Kraft zu verleihen.
Das Buch rekonstruiert in sieben Kapiteln die Geschichte der Stiftung vom Jahr ihrer Gründung bis 1600. Die ersten drei Kapitel analysieren das Denken von Erasmus in Bezug auf die Entstehung der Stiftung; die Gründung der Stiftung durch Amerbach und die von ihm und seinem Sohn Basilius ausgearbeiteten Statuten, einschließlich der Art der Empfänger der Gelder, der Regeln für die Übertragung der Verwaltung auf den Erben und anschließend auf die städtischen Institutionen, des finanziellen Investitionsplans, des Dekalogs für die Begünstigten usw.; die Beziehung zu philanthropischen Institutionen in Basel und im Deutschen Reich. Die folgenden Kapitel sind den Aktivitäten der Erasmusstiftung während der Verwaltung der Amerbachs und der Universität gewidmet, und zwar durch die Untersuchung quantitativer und qualitativer Daten über die Begünstigten, die aufgrund ihrer Bedeutung ausgewählt wurden, angesichts ihrer Gesamtzahl: 9.000 „gelernte Stipendiaten“ und 3.000 Arme.
So wurden die biografischen Wege, die Werke, die Beziehungsnetzwerke, die materiellen Bedürfnisse, die sozioökonomischen Bedingungen und die Emotionen so vieler Männer und Frauen mit zerbrochenen Träumen, zerbrochenen Leben und zerbrochenen Illusionen rekonstruiert, die die Einrichtung als Leuchtturm der Hoffnung sahen und den Ruf ihre Großzügigkeit ernährten, sobald sie ihre Reise wieder aufnahmen. Ziel des Buches war, ein großes Fresko der Stiftung zu entwerfen, um ihren dynamischen Beitrag zum Europa der damaligen Zeit zu erfassen und gleichzeitig zu beleuchten. Die Spuren von mehr oder weniger anonymen, mehr oder weniger bedeutenden Leben tragen dazu bei, dieses beispiellose und bedeutende Bild zusammenzusetzen: kleine Geschichten, die das Gewebe der großen Geschichte bilden. In der Regel nicht erzählt, stellen sie die Welt der Menschen dar, damals wie heute, außerhalb der Sublimierungen von Kunst und Ideologie. In einigen abschließenden Überlegungen zieht das Buch Schlussfolgerungen über die Arbeit und die Bedeutung der Erasmusstiftung, mit dem Ziel, einen Beitrag zur Geschichte und zum Verständnis des Erasmus-Erbes zu leisten.
Das Studium der Stiftung verlagert die Bedeutung von Erasmus’ historischer Gestalt von der üblichen Ebene der Religionsgeschichte auf die einer ganzheitlicheren Kultur- und Sozialgeschichte und bietet einen neuen und bedeutenden Querschnitt durch das Europa des 16. Jahrhunderts. Die Stiftung stellt in der Tat eine privilegierte Beobachtungsstelle für die Analyse der entscheidenden Knotenpunkte dieser sich in völliger Veränderung befindlichen Welt dar: das Phänomen der intellektuellen und nicht-intellektuellen Mobilität, sei es aus Zwang oder aus beruflicher Entscheidung. Dies erfolgt sowohl in Bezug auf die Durchquerung des geografischen Raums als auch in seiner sozialen Dimension und in seinen praktischen und emotionalen Auswirkungen, bspw. in Bezug auf die Erfahrung des Reisens und der Entwurzelung aus dem eigenen Lebensraum. Es betrifft die Kommunikationsmodi und die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit anderen kultureller Realitäten sowie die Wege der Zirkulation von Menschen, Büchern, Ideen; den Wert und die Tragweite der Beziehungs- und Mäzenatennetzwerke in den verschiedenen Bereichen des Gesellschaftslebens im modernen Europa; die Bezugsinstitutionen dieser „Welt in Bewegung“; die neuen Maßnahmen und Konzepte in Bezug auf das soziale Handeln von Privatpersonen und öffentlichen Einrichtungen zur sozialen Förderung junger Menschen, durch die Vergabe von Stipendien oder Zuschüssen für Lehrstellen, zur Unterstützung von Familien (mit Mitgift und Geldern für das Wochenbett), zur Unterstützung von Armen.
Die Erasmusstiftung ermöglicht darüber hinaus die gezielte Untersuchung eines Problems, das damals wie heute von großer Bedeutung ist: das Verhältnis zwischen Ideen und Praktiken der Toleranz. Das Koexistenz unterschiedlicher Religionen und Kulturen steht derzeit im Mittelpunkt neuer Reflexionen in der Geschichtswissenschaft, um ein realistischeres und differenzierteres Bild der europäischen Gesellschaft im so genannten „Zeitalter der Konfessionen“ zu zeichnen. Die zunehmende Unnachgiebigkeit der Kirchen fand in der Tat Hindernisse in den zunehmend disruptiven Theorien der religiösen und bürgerlichen Freiheit, aber auch in konkreten Handlungen und Werten, die mit der Idee des Gemeinwohls der Gemeinschaft verbunden sind, das durch eine möglichst friedliche und tolerante Koexistenz erreicht werden kann. Eine Idee, die mit der Zeit dazu bestimmt wurde, Konflikte zu dämpfen, wenn nicht gar religiöse Identitäten zu untergraben und generell einen – wenn auch langsamen und holprigen – Prozess einzuleiten, der zur Überwindung konfessioneller Schranken und zur Säkularisierung der europäischen Gesellschaft führte.
Eine letzte Bemerkung. Da das Verständnis der Gegenwart und die Planung der Zukunft von der Kenntnis der Geschichte abhängen, kann das Studium der Erasmusstiftung ein wirksames Gegenmittel gegen den immer stärker werdenden politischen Nationalismus, den religiösen Fanatismus und die sozialen Ungleichheiten liefern. Die Erinnerung an Erasmus‘ Lektion kann den gegenwärtigen Versuchen Einhalt gebieten, das gemeinschaftliche Europa zu zerschlagen, das auf den Trümmern von Kriegen und schrecklichen Konflikten aufgebaut ist, die es seit Jahrhunderten zerrissen haben. Vor allem die vielen jungen Menschen der „Erasmus-Generation“, die seit vielen Jahren die Vorteile der europäischen Bürgerschaft mit der Freizügigkeit und den Chancen für individuelles und kollektives Wachstum, die sich aus dem Vergleich verschiedener Kulturen ergeben, erfahren haben, können ihre Träger und Hüter sein. In der Tat ist die Übereinstimmung des Erasmus-Projekts, das auf die Mobilität von Studenten und Dozenten an den Universitäten der Europäischen Union abzielt, mit der Gründung des niederländischen Humanisten, der sich selbst als „Weltbürger“ bezeichnete, unbestreitbar. Abschließend lässt sich sagen, dass die Vitalität der Botschaft von Erasmus und seiner Stiftung in der Überwindung von Barrieren zwischen Kulturen, Religionen und Menschen im Namen der menschlichen Solidarität und Freiheit für eine bessere Zukunft liegt. Ideale, auf die wir auch heute noch schauen, wenn wir neue Migranten aufnehmen, die vor Krieg, Gewalt und Elend fliehen. Mit der ganzen Kraft der Utopien, damals wie heute.
Lucia Felici, übersetzt von Gregor Fitz. Aus perspektivends 2/2022, S. 132, ff.