Das ist gar nicht so einfach, hier zu reden. Wenn man als ehemaliger Student von Helga Grebing und von Richard Saage hier vorne steht, fühlt man sich doch wieder in eine Prüfungssituation zurückversetzt. Wenn mir das vor rund 30 Jahren jemand prophezeit hätte, dass ich einmal ein Buch von Euch vorstelle, ich hätte es wahrscheinlich nicht geglaubt, und Ihr hättet herzlich gelacht. Ich habe ja noch im analogen Zeitalter meine Arbeiten an der Universität Göttingen geschrieben, deswegen sind diese hoffentlich nicht mehr auffindbar. Jedenfalls war ich so nicht in Gefahr, Plagiate zu verfassen.

Ich freue mich sehr darüber, dass Ihr heute hier seid, dass wir das Buch vorstellen können, und ich freue mich sehr über den Gegenstand. Denn in der Tat ist es ja so gewesen, dass wir – zumindest war das die Auffassung vieler Liberaler und Konservativer in der Politik – in den letzten Jahren den Eindruck hatten, als sei die Frage nach dem Menschenbild spätestens mit dem Zusammenbruch des sogenannten „real existierenden Sozialismus" und dem weltweiten Siegeszug bürgerlicher Demokratien mit einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung beantwortet: Jeder könne nach seiner Fasson selig werden. The Pursuit of Happyness aus der amerikanischen Verfassung lag in den Händen jedes Einzelnen, der am freien Markt der Möglichkeiten versuchen kann, im Wettbewerb mit anderen endlich seines Glückes Schmied zu werden. Das wurde zur wesentlichen Ausdrucksform des Menschenbildes in unseren entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaften.

Aber genau da steckte dann eben auch das Problem. Eine Gesellschaft der auf ihren Vorteil bedachten „Ichlinge" entwickelt sich keineswegs zu einer immer freieren und dynamischeren Gesellschaft. Wir haben sehr schön in den letzten Jahren sehen können, wie die Idee, dass jeder auf den freien Märkten seine Selbstverwirklichung betreiben könne, und dass es nur an ihm hänge, wie weit er dabei komme, gescheitert ist. Übrigens: Diese Debatte über das Menschenbild, bei dem das freie Individuum das Recht auf Glück hat, aber auch die Verpflichtung, darum zu kämpfen, erlebt gerade auf der anderen Seite der politischen Medaille eine Wiedergeburt. Denn auch bei der Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen wird ein Menschenbild sichtbar, das mit dem Sozialdemokratischen, mit der Wertschätzung und der Würde von Arbeit, aber auch der gegenseitigen Verantwortung und Solidarität für die Entwicklung einer Gesellschaft, relativ wenig zu tun hat. Insofern ist es eine gute Zeit, über Menschenbilder und das Bild vom Zusammenleben der Menschen in Deutschland, aber auch in anderen Ländern der Erde zu reden, weil die Ideologie der freien Märkte – also die, bei der jeder seines Glückes Schmied sei – ebenso gescheitert ist, wie die eher libertären Vorstellungen, die wir aktuell wieder erleben in der politischen Debatte. Denn ein Teil der sich individualisierenden Gesellschaft meint, sich das Recht auf ihre Selbstentfaltung nehmen zu können, die andere bezahlen sollen. Hierbei spielt die Frage, was Arbeit eigentlich mit dem Menschenbild und der Konstitution von Gesellschaften zu tun hat - also die Frage, die die Sozialdemokratie seit fast 150 Jahren bewegt - eine ganz andere Rolle als in der Ideengeschichte unserer Partei. So beginnen sich die Gegensätze zwischen den unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft wieder zu verschärfen. Nicht jeder Schmied hat Glück, und wird deshalb auch nicht zu seines Glückes Schmied.

Wir werden in den nächsten Monaten und Jahren vermutlich viel damit zu tun haben über die Frage zu reden, wie wir eigentlich die wachsenden kulturellen und sozialen Aufspaltungen unserer Gesellschaft wieder einigermaßen zusammenfügen können. Ich glaube jedenfalls, dass wir an einer Zeitenwende stehen, bei der das Bewusstsein davon, dass eine Gesellschaft immer beides braucht, wieder geschärft wird: Freiheit, aus seinem Leben etwas zu machen, aber eben auch Verantwortung für andere zu empfinden, weil nur dann eine Gesellschaft sich gut entwickeln kann. Wenn beides im Blickwinkel der in ihr lebenden Menschen steht, wird das Pendel wieder in diese Richtung zurück schlagen.

Wir haben ein schönes Beispiel dafür im letzten Jahr erlebt. Die Bremer Sozialdemokratie hat einen Wahlkampf geführt mit einem einzigen Wort. Und wenn man da im Wahlkampf war, dann hat man gemerkt, dass das Wort eine Saite zum Schwingen gebracht hat, die eine ganze Zeit stillgelegt schien in unserer Gesellschaft. Das Wort hieß „Miteinander". Das war das einzige Wort, das auf Plakaten der Bremer Sozialdemokratie in ihrem Wahlkampf zu finden war. Da waren nicht Forderungen „keine Kindertagesstätten-Gebühren mehr", „nur noch Ganztags- oder Gesamtschulen", oder was man immer in Landtagswahlkämpfen plakatieren kann, sondern die Bremer Sozialdemokratie hat die gemeinsame Entwicklung ihrer Stadt, aller darin lebenden Menschen in diesem einen Wort zusammengefasst. Sie bildete damit ab, dass in unserer Gesellschaft wieder stärker darüber nachgedacht wird, was uns miteinander verbindet, und nicht mehr nur darüber, was uns voneinander trennt und uns in gegenseitigen Wettbewerb führt.

Wir Sozialdemokraten wissen schon lange, dass die Hoffnung auf die befreiende Macht des Eigennutzes trügt. Deshalb kommt die Erinnerung an verschiedene sozialdemokratische Menschenbilder der letzten 150 Jahre – so alt werden wir im nächsten Jahr – von Helga Grebing, Klaus Faber und Richard Saage aus meiner Sicht zu einer guten Zeit. Sie haben eine Problematik aufbereitet und ausgebreitet, die erst relativ spät in die sozialdemokratische Programmatik Eingang gefunden hat. Man kann aus dem Sammelband der drei Herausgeber lernen, dass zwar die Debatte über das Bild vom Menschen so alt ist wie die SPD, dass aber erst seit dem Godesberger Programm das Menschenbild der Partei auch richtig ausbuchstabiert wird. Im Berliner- und erst recht im Hamburger Programm geschieht das aus meiner Sicht sehr ausführlich, und – wie ich auch finde – beeindruckend. Klar wird bei dem Blick auf die Programme: Je pluraler die SPD geworden ist, je unterschiedlicher die Motive, warum Menschen sich der Sozialdemokratie anschließen, desto größer wurde der Bedarf, sich auf eine gemeinsame Vorstellung davon zu einigen, wie eine Welt aussehen sollte, die den Menschen gerecht wird. In dem hier vorliegenden Sammelband gehen die Autoren dem Wandel sozialdemokratischer Menschenbilder nach. Der Leser erfährt viel über den Einfluss historischer Erfahrungen und Umbrüche auf das Menschenbild der Sozialdemokratie. Auch die Auseinandersetzung sozialdemokratischer Theoretiker mit dem jeweils herrschenden Zeitgeist spielt eine große Rolle im Buch. Das reicht vom Sozialdarwinismus bis hin zur Kritik am Neoliberalismus der Gegenwart.

Bei der Lektüre wurde für mich eines deutlich: Selbst wenn Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts viel von ihrem historischen Optimismus – ihrem naiven Optimismus, der historische ist ihr hoffentlich geblieben – eingebüßt haben, so gibt es doch Konstanten. Eine Konstante will ich besonders hervorheben. Die Diskussion über das Menschenbild ist für Sozialdemokraten immer auch eine Debatte über die Gesellschaftsform, in der Menschen im doppelten Sinn frei leben sollen. Frei natürlich von Not und Unterdrückung, aber auch frei zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit.

Man kann das an der praktischen Politik ganz gut deutlich machen an der Diskussion der Sozialdemokratie über Mitbestimmung und Betriebsverfassung. Das ist in der Entwicklung dieser Idee nicht nur die eher technokratische Norm, Arbeitnehmerinteressen innerhalb eines Betriebes oder Unternehmens zu berücksichtigen. Dahinter steckt vielmehr ein ganz bestimmtes Bild vom Menschen, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eben nicht zu Objekten von Direktionsentscheidungen degradiert; es berücksichtigt, dass sie auch in ihrem Arbeitsprozess Subjekte bleiben und im Übrigen am Betriebstor kein Schild steht „Hier endet der demokratische Sektor der Bundesrepublik". Das Bild vom Subjekt im Arbeitsprozess, das etwas beizutragen hat, das sich äußert, das aber eben auch für sein Leben und seine Persönlichkeit mit diesem Arbeitsprozess verbindet: All das prägt sehr stark den Mitbestimmungsgedanken der Sozialdemokratie und ist dort praktischer Ausfluss eines ganz bestimmten Bildes vom Menschen und seinen Eigenschaften.

Die Konstante kommt auch im Hamburger Programm von 2007 zum Ausdruck. Dort heißt es: „Die gleiche Würde aller Menschen ist Ausgangspunkt und Ziel unserer Politik. Menschen tragen verschiedene Möglichkeiten in sich. Sie sind weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt. Sie sind vernunftbegabt und lernfähig. Daher ist Demokratie möglich. Sie sind fehlbar, können irren und in Unmenschlichkeit zurückfallen. Darum ist Demokratie nötig."

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass in den letzten 20 Jahren – in der Politik erlebe ich das im Alltag immer stärker – hinsichtlich der Demokratie und der gleichen Würde des Menschen – das sind die Voraussetzungen der Demokratie – das Misstrauen in unserem Land und vermutlich in allen westlichen Industrienationen immer stärker gewachsen ist. Je mehr Menschen Ungleichheit durch Mangel oder Not erfahren, je mehr sie erleben, dass sie selbst eben nicht Subjekt, sondern Objekt einer angeblich höheren wirtschaftlichen Logik werden, wenn es etwa um ihre Arbeitsplätze geht, und je mehr sie anderen Menschen und anderen Nationen zuallererst als Konkurrenten gegenübergestellt werden und nicht als Partner, desto stärken haben sie sich auch von diesem Optimismus gegenüber einer demokratischen Gesellschaft entfernt.

Von all den Dingen, die wir in unserem Land und in Europa und darüber hinaus zu regeln haben, erscheint mir eines das schwierigste: Das ist der Umgang mit den Ohnmachtsgefühlen in unserer Gesellschaft. Die hat ganz unterschiedliche Ausprägungen. Die eine, der man noch am einfachsten begegnen kann, ist, dass Menschen glauben, der Spruch „Geld regiert die Welt" sei richtig und deshalb seien Parlamente, Politiker und Regierungen eigentlich gar nicht in der Lage, die Lebensbedingungen von Menschen nachhaltig zu beeinflussen. Dagegen kann man im Zweifel mit politischem Engagement und auch besserer Politik etwas tun.

Ein zweites Ohnmachtsgefühl – und das drückt das ganze Misstrauen gegenüber den etablierten demokratischen Institutionen, Parteien und Strukturen in Deutschland aus – ist das Ohnmachtsgefühl von Menschen gegenüber der Politik selbst. Wir werden erlebt als Teil einer eigenen Klasse mit eigenen Regeln, abgehoben vom Alltag der Bevölkerung, nicht wissend, wie der Alltag in Wahrheit aussieht, und möglicherweise nicht mal daran interessiert. Das hat viele Gründe, auch in den Erscheinungsformen von Politik. Eine Ursache liegt sicher auch darin, wie Politik sich heute entwickelt und woher sie kommt. Aber das ist natürlich eine ungeheuer gefährliche Entwicklung für die Demokratie insgesamt und für die Sozialdemokratie insbesondere, wenn Menschen letztlich nicht mehr an die Gestaltungskraft von Politik und deren Gestaltungswillen glauben, sondern eher die Auffassung haben, die Welt teile sich in die da oben und wir hier unten. In diesem dichotomischen Bewusstsein nehmen viele Bürgerinnen und Bürger Abschied von politischer Beteiligung.

Die Sozialdemokratie hat immer von einem optimistischen Hoffnungsüberschuss von Menschen gelebt. Sie hat es schwer in einer Gesellschaft zu agieren, bei der es eher einen Überschuss an Pessimismus gibt. Das, glaube ich, ist der größte Gegner der Sozialdemokratie und ihrer Idee. Das ist nicht die CDU oder die FDP oder die Grünen, sondern dieses Ohnmachtsgefühl in der Gesellschaft. Und man muss fast froh sein, dass es einen Teil von Menschen gibt, die sagen, wir sind mit dem, was wir erleben, unzufrieden und beteiligen uns bei der Gründung einer neuen Partei erneut im parlamentarischen System. Jedenfalls ist das allemal besser, als sie völlig als Gesprächspartner zu verlieren.

Es gibt also Grund darüber zu reden, wie unsere Vorstellung vom Menschen und von menschlichem Zusammenleben aussieht. Und natürlich habe ich gesehen, dass die Debatte über die Thesen von Thilo Sarrazin auch für die Autoren einer der Gründe gewesen ist, dieses Projekt anzugehen. Wir erleben ja, dass bei der Veröffentlichung dieses Buches – immerhin sind 1,5 Mio. Exemplare gekauft, vermutlich aber nicht alle gelesen worden – wie groß die verdeckte Sehnsucht danach war, eben nicht von der gleichen Würde aller Menschen ausgehen zu müssen, sondern eine unterschiedliche Würde zu vermuten und endlich jemanden zu finden, der in einer pseudowissenschaftlichen Argumentation versucht, dafür scheinbar wissenschaftliche Argumente vorzustellen.

Die Sozialdemokratie hat über diese Thesen Sarrazins und sein Menschenbild – er selbst bezeichnet sich als Sozialdemokraten – eine Stellvertreterauseinandersetzung geführt. Die Auseinandersetzung in der SPD ist stellvertretend für eine geführt worden, die in der Gesellschaft nur zum Teil stattgefunden hat. Und man muss zugeben, dass wir diese Auseinandersetzung verloren haben. Selbst in der Entscheidung des Schiedsgerichts innerhalb der SPD ist es nicht gelungen, das Kernproblem dieses Buches zum Gegenstand der Debatte zu machen, nämlich sein Menschenbild. In den veröffentlichten Medien, in der innerparteilichen Debatte gab es stattdessen immer folgenden Versuch, sich damit nicht auseinander zu setzen: Ja, da habe der sicher irgendwelchen biologistischen Quatsch geschrieben, aber im Grunde sei das doch gut, dass einer endlich mal erklärt, wie schwierig die Integration in Deutschland eigentlich sei.

Das ist die Behauptung, die beiden Dinge könnte man voneinander trennen. Aber das Buch Sarrazins trägt nicht ohne Grund den Titel „Deutschland schafft sich ab" und zum ersten Mal belebt eine respektierte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg die Verbindung zwischen genetischen und sozialen Fragen in unserem Land. Das ganze Grundgesetz ist, den Nürnberger Ärzteprozess vor Augen, gegen diese Verbindung von genetischen und sozialen Fragen geschrieben worden, weil nie wieder ein Staat und eine Gesellschaft entstehen sollte, bei der genetische Auswahlprozesse organisiert werden sollten zur Verbesserung der gesellschaftlichen, der sozialen Verhältnisse in einem Land.

Das ist ja ein Menschenbild gewesen, das auch in der Sozialdemokratie und auch in der Linken im Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert außerordentlich modern war und populär. In fast allen damaligen ideologischen oder ideengeschichtlichen Entwicklungen galt es, den neuen Menschen zu schaffen. Das wollten auch Sozialdemokraten.

„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt,

wir sind der Sämann, die Saat und das Feld,

wir sind die Schnitter der kommenden Mahd,

wir sind die Zukunft und wir sind die Tat."

Das ist ein anderes Lied der Arbeiterbewegung aus dem Roten Wien. Die Kommunisten mit der Idee eines neuen Menschen, die sie mit jeder Brutalität durchzusetzen bereit waren, und die Nationalsozialisten, die sich auf Sozialdemokraten aus Schweden beriefen – Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre – Alva und Gunnar Myrdal, die diese Idee genetischer Selektion zur Verbesserung der Bedingungen für eine sozial gerechte und sozialistische Gesellschaft in Schweden zur Regierungspolitik erhoben hatten. Bis in die 70er Jahre hinein wurden auf dieser Grundlage Menschen in Schweden sterilisiert, um ihre Fortpflanzung zu verhindern. Auf nichts anderes haben sich Nationalsozialisten berufen. Und übrigens: Sarrazin beruft sich ebenfalls auf Gunnar und Alva Myrdal, ohne allerdings die Konsequenzen dieser Ideengeschichte zu beschreiben. Also eigentlich nichts Neues, aber zum ersten Mal – weil wir eben im ersten Teil des 20. Jahrhunderts erlebt haben, zu welcher Katastrophe das führt – hat ein Politiker diese Idee des Genetischen und der Verbindung von Genetischem und Sozialem erneut belebt. Er hat dafür entweder ungeheuer viel Zuspruch bekommen oder zumindest doch vom beschwichtigenden Versuch profitiert, diese Kernthese seines Buches zu verschweigen.

Ich habe vorhin gesagt, wir haben diese Debatte verloren, weil es weder innerhalb der SPD noch außerhalb der SPD gelungen ist, den Kern von Sarrazins Menschenbild zum Gegenstand der öffentlichen Debatte zu machen. Diskutiert worden ist über all das, über was man zu recht in Deutschland streitend diskutieren darf: Vor allem über gelungene und misslungene Integration. Aber es ist nicht diskutiert worden über die Frage, welches Bild vom Menschen uns eigentlich auszeichnet. Welches Menschenbild liegt unserem demokratischen Gemeinwesen und einem friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt zugrunde? Darüber ist nicht geredet worden, sondern es ist über andere Dinge geredet worden. Und Sarrazin selbst hat vermutlich irgendwann erlebt, dass er diese Debatte auch nicht überstehen könnte, und er hat deshalb selbst auch nicht mehr darüber gesprochen. Aber das zeigt, da ist etwas im Kern unserer Gesellschaft, das mobilisierungsfähig ist.

Lieber Richard Saage, ich erinnere mich an unsere Debatten über Konservativismustheorien und die neue Rechte und über das, was damals Ernst August Roloff über Adorno und seine Studien zum autoritären Charakter in Göttingen veröffentlicht hat. Damals haben wir gelernt, dass autoritäre Charakterstrukturen in jeder Gesellschaft, die so komplex und kompliziert ist wie Industriegesellschaften, entstehen, aber dass es darauf ankommt, ob sie sich Bahn brechen. Und das ist tatsächlich die Frage. Mitentscheidend ist, ob solche Ideologien von oben in der Gesellschaft salonfähig gemacht werden. Und Sarrazin kam von oben. Und wenn ein Bundesbankvorstand, ein ehemaliger Finanzminister, ein Sozialdemokrat, ein solches Menschenbild veröffentlichen kann, dann trauen sich tausende aus dem Zentrum der Gesellschaft johlend und applaudierend in der Berliner Urania zu sitzen und jeden Ansatz von Kritik so nieder zu schreien, dass die Kritiker in einer öffentlichen Debatte keine Chance mehr hatten, zu Wort zu kommen. Das zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen, und wie wichtig es ist, in unserer Gesellschaft über unser Bild vom Menschen und über unser Bild vom Zusammenleben zwischen Menschen zu reden und klar zu machen, dass solche Verbindungen von Genetik und Sozialem in Deutschland, in Europa und in der Welt ausschließlich einen Weg nehmen können, nämlich den in die Katastrophe.

Mich beunruhigt, wie viele Menschen das Publizieren solcher Thesen als einen Akt der Befreiung erlebt haben, eine Befreiung auch von einem Menschenbild gleicher Würde unter den Menschen, denn nichts anderes ist dabei passiert. Schaut man sich Untersuchungsergebnisse von Wilhelm Heitmeyer und Anna Klein aus dem letzten Jahr an, dann weicht das Erstaunen doch deutlich der Beunruhigung. Die beiden untersuchen die Ökonomisierung des Sozialen. Hinter diesem sehr soziologisch klingenden Titel verbirgt sich die Beschäftigung mit einem Bereich, den Sozialdemokraten als ein Feld der Kooperation und des friedlichen Ausgleichs von Interessen verstehen, während die Neo-Liberalen auch das Soziale einem reinen Nutzen-Kalkül unterwerfen wollen. Ich will Ihnen mit ein paar Zahlen illustrieren, wie sehr Ungleichheit in unserem Land schon zu Ungleichwertigkeit geworden ist.

Fast ein Drittel der Befragten in Heitmeyers und Kleins Befragung finden beispielsweise, dass sich „keine Gesellschaft Menschen leisten kann, die wenig nützlich sind". So lautete die Ausgangsfrage. Fast ebenso viele sind der Meinung, dass wir in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Versager nehmen. Ich empfehle jedem aktuell mal eine Debatte über deutsche Hilfszahlungen an Griechenland. Er wird die Europäisierung dieses nationalen Gefühls sofort erleben. Man sollte sich in Acht nehmen vor vorschnellen Erklärungen, aber können einen solche Einstellungen wirklich wundern, wenn seit mehr als 20 Jahren der Abbau von Wohlstand in den entwickelten Industrienationen mit dem gnadenlosen internationalen Wettbewerb begründet wird, dem man sich eben zu stellen habe und bei dem nur der auch als Nation, als Standort überleben kann, indem die Nützlichen sich durchsetzen? In dem Menschenbild, das zu solch einem Weltbild passt, sind die Schwachen und die scheinbar Unnützen nicht nur Ballast, sie sind mehr als das. Sie werden schnell zu Schädlingen, weil sie die Wettbewerbssituation des eigenen Landes und damit das eigene Einkommen gefährden. Dazu passen dann übrigens Begriffe wie „Sozialschmarotzer" oder „Hartz-IV-Betrüger", die in vielen Medien und auch in unserer politischen Alltagssprache längst Eingang gefunden haben.

In derselben Befragung gaben fast 65 Prozent an, dass „Leute wie ich sowieso keinen Einfluss darauf haben, was die Regierung tut". Welche Aufgabe wir als Politiker haben, zeigt diese Zahl: 83 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass „sich Politiker mehr Rechte herausnehmen als normale Bürger". Und man muss wohl sagen, leider gibt es dafür eine ganze Menge an Belegen.

Beispiele, wie die gerade genannten, zeigen, dass es gute Gründe dafür gibt, sich mit dem Bild und der Idee über den Menschen und das Zusammenleben von Menschen zu beschäftigen. Denn weder um unser gemeinsames Ziel der gleichen Würde aller Menschen, noch um das dafür notwendige solidarische Zusammenwirken steht es besonders gut. Aber beim Warnen dürfen wir als Sozialdemokraten eben nicht stehenbleiben. Zu unserem Menschenbild gehört auch, dass Menschen ihre Geschichte selbst machen können, wenn auch nicht unter selbstgewählten Umständen.

Seit 150 Jahren glauben wir Sozialdemokraten fest daran, und haben auch unglaubliche Erfolge dabei erzielt, dass die Welt gestaltbar ist, wenn wir solidarisch daran herangehen. Auch an diesen Fortschrittsoptimismus der Sozialdemokratie erinnert übrigens der eine oder andere Artikel in Helga Grebings, Richard Saages und Klaus Fabers Sammelband, ebenso wie an die Enttäuschungen, welche die Partei erlebt, und welche sie einen gesunden Realismus gelehrt haben. Im Rückblick auf die nun fast 150jährige Geschichte unserer Partei zeigt sich, dass die SPD sich dabei meist in einer Doppelrolle gesehen hat. Sie hat ganz praktisch in den Kommunen, in den Betrieben, den Bildungseinrichtungen, auch in den Parlamenten für die Schaffung von Lebensumständen gekämpft, unter denen ein menschenwürdiges Leben in Freiheit und Gerechtigkeit möglich sind. Darüber hinaus ist sie eingetreten für eine politische Praxis, die Solidarität erfahrbar und damit zu einem Modus des täglichen Umgangs miteinander macht. In den ersten Jahrzehnten war es das Ziel der Parteiarbeit und der Praxis in der Arbeiterbewegung, Solidarität in dem eigenen Teil der Gesellschaft erfahrbar werden zu lassen – aus der Not heraus geboren, aber sicher auch um zu zeigen, dass ein anderes Leben möglich ist – und gleichzeitig in der politischen Arbeit der Parlamente insgesamt die Gesellschaften zu verändern.

Aber schon im Erfurter Programm der SPD von 1891 sagen die Sozialdemokraten, dass nur die Demokratie die Voraussetzung für eine den Menschen gerecht werdende Form solidarischen Umgangs schafft. Die Demokratie ist die politische Form, in der Solidarität eingeübt wird. Eine erleb- und praktizierbare, alle Bereiche des Lebens regelnde Demokratie, um nichts anderes geht es bei Willy Brandts Ankündigung, mehr Demokratie wagen zu wollen. Demokratie, demokratische Praxis selbst, erzieht zu friedlicher Kooperation, zum Kompromiss und auch zur Solidarität. Das ist nicht nur die Aufgabe einer politischen Avantgarde, sondern das ist das Kennzeichen sozialdemokratischer Politik. Ich glaube, dass diese doppelte Aufgabe es wert ist, sich heute wieder an sie zu erinnern und übrigens auch darüber nachzudenken, dass wir uns in einer weit besser gebildeten und auch informierten Gesellschaft neue Formen demokratischer Partizipation zutrauen können.

Ich kenne alle Argumente, die gegen Volksentscheide sprechen, jeder versucht natürlich mitten in der Euro-Krise zu zeigen, siehst du, wenn du da die Menschen fragen würdest, würden sie alle raus aus dem Euro wollen und den Griechen keinen Cent mehr schicken. Aber es geht mir ganz grundsätzlich darum, dass nur über den Weg der demokratischen Auseinandersetzung auch mit unseren Bürgerinnen und Bürgern in unserer Gesellschaft demokratischer Fortschritt, auch europäischer Fortschritt zu erzielen ist, weil wir nur auf diesem Weg den Zynismus in unserer Gesellschaft und in der Politik bekämpfen können. Der Zynismus ist ganz wesentlich auch dadurch entstanden, dass Parteien – auch die Sozialdemokratische Partei wie alle anderen – in der Vergangenheit in der Alltagspraxis ihrer Politik nicht in ausreichendem Maße die in ihrer Ideologie, in ihrer Vorstellungswelt vorhandenen Wertvorstellungen vom Menschen und seinem Zusammenleben berücksichtigt haben.

Ein sozialdemokratischer Regierungschef aus Schweden hat mal als Leitlinie für sozialdemokratisches Regierungshandeln ausgegeben: do it quick and dirty – mach sie ganz schnell nach den Wahlen, die schlimmen Dinge, die Du vorher verschwiegen hast. Bis zur nächsten Wahl werden Deine Wählerinnen und Wähler das wieder vergessen haben. Das ist wohl das Motto, das fast alle Regierungen irgendwann einmal für sich in Anspruch genommen haben. Aber wer so zynisch mit der eigenen Bevölkerung umgeht, darf sich eben auch nicht wundern, wenn nach längerer Erfahrung die Gesellschaft ebenso zynisch denjenigen antwortet, die sich einen aufgeklärten Umgang auch mit schwierigen Entscheidungen in der Gesellschaft nicht zutrauen. Deswegen glaube ich, dass uns nur ein Ausweg bleibt, nämlich die demokratische Teilhabe unserer Bürgerinnen und Bürger zu verbreitern: durch die Öffnung der Parteien, durch Mitwirkungsmöglichkeiten auch für Menschen, die sich nicht ein Leben lang zu einer Partei bekennen wollen, und auch durch die Verankerung des Rechts auf Volksentscheide und auf die Überprüfung parlamentarisch getroffener Entscheidungen in unserer Verfassung. Auch da muss das Menschenbild der Sozialdemokratie wieder sichtbar werden, dass wir den Menschen etwas zutrauen. Wir sind eine Partei der Aufklärung, und wenn wir selbst nicht mehr an die Kraft des Arguments und an die Kraft der Emanzipationsfähigkeit und Aufklärung glauben, warum sollten es die Menschen tun, um deren Vertrauen wir werben.

Ein neuer Anlauf zur Belebung der Demokratie in unserem Land muss sich allerdings dem ökonomischen Menschenbild des Neoliberalismus entgegen stellen und ihm eine menschliche, zugleich progressive Version eines selbstbestimmten Bürgers gegenüberstellen. Ich habe schon gesagt, dass ich glaube, die Chancen dafür wachsen wieder, dass Menschen merken, dass sie nur gemeinschaftlich aus ihrem Leben etwas machen können, und dass dieser Westerwelle-Spruch, wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht, für eine moderne Gesellschaft eben nicht sehr erfolgversprechend ist. Unser Anspruch als Sozialdemokratie ist es, das Missverhältnis zwischen dem Anspruch der Demokratie und der gesellschaftlichen Wirklichkeit wieder zurechtzurücken und eine Balance zu schaffen, in der Freiheit und Gerechtigkeit sich gegenseitig bedingen, damit Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt neu entstehen. Das Lesen unzeitgemäßer Bücher, die zur rechten Zeit kommen, um die aktuellen Aufgaben der Politik mit den historischen Erfahrungen verknüpfen, ist dabei ausgesprochen hilfreich. Ich danke deshalb Helga Grebing, Richard Saage, Klaus Faber und allen, die zu diesem Buch beigetragen haben, für ihre Arbeit. Es bleibt die vornehme Aufgabe der Sozialdemokratie, ihre praktische Politik aus ihrem Verständnis des Bildes vom Menschen und des Zusammenlebens von Menschen heraus zu entwickeln und an den politischen Entscheidungen ihre Werthaltungen im Alltag sichtbar werden zu lassen. Es gibt keine bedeutende politische Kraft in Deutschland, die sich diesem historischen Auftrag so sehr verpflichtet weiß wie die Sozialdemokratie, und das muss auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten so bleiben.