Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen
Rassenhygiene und Gesundheitspflege in der Geschichte der sozialen Arbeit
Auch im Bereich der sozialen Arbeit ist die Zeit des Nationalsozialismus nicht ohne Traditionen und Kontinuitäten zu verstehen. Die Wurzeln reichen bis ins 19. Jh. zurück, ihre Nachwirkungen sind bis in die Gegenwart zu verfolgen.
Die sorgfältig recherchierte Studie, die auf umfangreichem Quellenstudium beruht, hilft, ,die Banalität des Bösen" zu verstehen, sie zeigt rasse-hygienische Vorstellungen auch bei denen, die als poli-tische Gegner des National-sozialismus gelten.
Wie konnte es den Nationalsozialisten gelingen, die soziale Arbeit ohne große Widerstände für Ihre Zwecke zu instrumentalisieren? Warum errichteten die oft idealistischen Menschen, die sich diesem Metier verschrieben hatten, Jugendkonzentrationslager und halfen mit "unwertes" Leben zu vernichten?
Manfred Kappeler zeigt in seinem umfangreiches Werk
- daß rassehygienische Vorstellungen auch bei denen verbreitet waren, die als politisches Gegengewicht zu den Nationalsozialisten galten und gelten:
- daß die Geschichte der sozialen Arbeit in weiten Teilen neu bewertet und identitätsstiftende Legenden hinterfragt werden müssen
Aus der Einleitung
Motivation und Erkenntnisinteresse
Warum ein weiteres Buch über Rassenhygiene/Eugenik? Seit Mitte der 80er Jahre sind umfangreiche und tiefschürfende Untersuchungen dazu veröffentlicht worden. Nach vierzigjährigem Schweigen, währenddessen sich die Öffentlichkeit mit dem Wissen begnügte, daß es "auch das" im nationalsozialistischen Deutschland gab, konnte von den Kindern und Enkeln der Generation der TäterInnen die Tabuisierung aufgehoben werden, um die Ursachen der bekannten "Tatbestände" zu erforschen; allerdings nicht ohne neue Tabuzonen zu errichten. Es scheint, als könnte die Geschichte des absoluten Schreckens nur in Etappen angeschaut werden, die es zulassen, den Blick immer wieder auf Inseln der Menschlichkeit im Meer des Grauens lenken zu können, um Trost und Hoffnung zu schöpfen und den Glauben an eine bessere Zukunft, d.h. an eine bessere Menschheit, nicht ganz zu verlieren.
Für meine Generation (Jahrgang 40) war der Rassismus auf der Seite der Herrschenden angesiedelt, eine Ideologie und ein Machtmittel auf der Seite der reaktionären Kräfte im Geschichtsprozeß und wir glaubten, ihn im kolonialen Gewaltverhältnis nach außen, im Antisemitismus und Fremdenhaß nach innen, eindeutig lokalisieren zu können. Demgegenüber, in kämpferischer Opposition, sahen wir die Linie des fortschrittlichen Denkens: Die Propagierung der Menschenrechte durch die Philosophie der Aufklärung, ihre politische Bedeutung in den bürgerlichen Revolutionen, schließlich ihre globale und universale Einforderung durch das revolutionäre Proletariat und den Sozialismus.
Die Aufdeckung der "Jugendschutzlager" als Konzentrationslager für Jugendliche war für mich der Auslöser für die Erarbeitung der hier vorgelegten Untersuchung. Mich beunruhigte die Frage, welche Sichtweisen und professionellen Haltungen meine BerufskollegInnen und andere Fachleute in den Jugendämtern und weiteren für Jugendliche "zuständigen" Behörden und Institutionen (z.B. Jugendgerichte, Vormundschaftsgerichte, Schulen) im nationalsozialistischen Deutschland dazu bringen konnten, mit ihrer beruflichen, auf professionellen Standards beruhenden Arbeit, sich an Gewalt und Terror gegen Minderjährige zu beteiligen, die doch ihrer Fürsorge im Sinne von Schutz, Unterstützung und Förderung anbefohlen waren.
Ich wollte untersuchen, aus welchem Vorher die Sichtweisen und Haltungen der Professionellen in der NSJugendbürokratie mitgebracht worden waren. Dabei zeigte sich, daß auch diejenigen politischen Vordenker, die der fortschrittlichen Schule zugerechnet werden, offensiv rassistische Ideen vertraten.
Als ich diese Gedanken anläßlich der Eröffnung einer Ausstellung im Wiener Gewerkschaftshaus vortrug und mit Beispielen sozialistischer Eugeniker, u.a. des prominenten Wiener Sozialisten Julius Tandler, unterlegte, der in den 20er Jahren öffentlich darüber nachdachte, ob es ökonomisch und eugenisch vertretbar sei, "unwertes Leben" zu Lasten des "wertvollen Lebens" zu finanzieren, erntete ich erregten Protest älterer ZuhörerInnen aus Gewerkschaften, SPÖ und der Österreichischen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die in meinen Ausführungen ein Sakrileg an der vom Rassismus ihrer Meinung nach, nicht befleckten Tradition des Sozialismus sahen.
Die von mir in ihrem bevölkerungspolitischen und eugenischen Denken im ersten Hauptteil des Buches dargestellten bedeutenden Sozialisten (Marx/Engels/Bebel/Kautsky) waren nicht in erster Linie Bevölkerungspolitiker und Eugeniker und es soll nicht der Eindruck erweckt werden, sie wären es gewesen. Es geht mir darum zu zeigen, daß sie es auch waren und wie dieses "Auch" mit zentralen Punkten ihres Denkens zusammenhängt, etwa mit ihrem Verständnis von "Fortschritt" oder ihrer Sicht des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft.
Hinweis zum thematischen Aufbau des Buches.
Nach einer eher kurzen Betrachtung der jüngeren historischen Wurzeln des rassenhygienischen/eugenischen Denkens im Zusammenhang mit den großen Wirkungen der Darwinschen Evolutionstheorie auf alle Bereiche des wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wird im ersten Hauptkapitel die Entwicklung von Rassenhygiene/Eugenik in der Arbeiterbewegung und im Sozialismus untersucht, die bislang im wissenschaftlichen und politischen Diskurs kaum thematisiert wurde. Diese Darstellung mündet in eine Fallstudie über den sozialistischen Eugeniker Alfred Grotjahr'. Dessen eugenische Theorie und Praxis reichte nicht nur bis unmittelbar an den Faschismus in Deutschland heran, sie hat auch weitgehende Wirkungen in der Wohlfahrtspflege der Weimarer Republik gehabt. Aus diesen Gründen habe ich mich entschlossen, das eugenische Werk Grotjahns, das in umfangreichen und zahlreichen Publikationen aus dem Zeitraum von 1900 bis 1932 vorliegt, im Detail anhand von Originaltexten vorzustellen und ausführlich zu kommentieren.
Das Kapitel "Sozialistische Eugenik'' wird mit einer Interpretation des eugenischen Denkens der sozialistischen Sozialpolitikerin Oda Olberg, die die theoretischen Grundlagen einer sozialistischen Eugenik am weitesten vorangetrieben hatte, beendet.
Die sich anschließende Darstellung des eugenischen Denkens in den Kirchen, habe ich auf eine biographische Skizze des führenden christlichen Eugenikers, des Jesuitenpaters Hermann Muckermann begrenzt, weil in den letzten Jahren die Übernahme des eugenischen Paradigmas durch die Kirchen und ihre sich daraus resultierende Verstrickung in Zwangssterilisierungen und "Tötung unwerten Lebens" (Euthanasie) in Untersuchungen und Dokumentationen öffentlich gemacht worden ist und weiter wird.
Im großen "Rest" des Buches, im ganzen zweiten Hauptteil, geht es um die Etablierung des eugenischen Paradigmas in der Sozialen Arbeit mit all ihren Folgen für die betroffenen Menschen, aber auch für die professionelle Entwicklung selbst in diesem bedeutenden Bereich gesellschaftlicher Arbeit.